Für eine Kultur der Achtsamkeit im Umgang mit Kindern
Prälat Dr. Peter Neher, Präsident
des Deutschen CaritasverbandesDCV
"Mit mir sind viele Menschen in unserer Kirche schockiert und bestürzt über den Missbrauch an Kindern und Menschen, die kirchlichen Einrichtungen anvertraut waren. Es ist beschämend, was an Einzelheiten bekannt wird. Vertrauen wurde verraten, die Entwicklung der Persönlichkeiten häufig nachhaltig gestört und Mauern des Schweigens errichtet. Das alles lastet schwer auf uns.
Vertrauen verraten und Würde verletzt
Da ist als erstes das Kreuz derer, die das Opfer krimineller Vergehen geworden sind - durch die Täter und dann noch einmal durch die kirchlichen Autoritäten, die weggeschaut und vertuscht haben. "Ich weiß", sagt Papst Benedikt XVI. in seinem Brief an die Katholiken Irlands, "dass nichts das Erlittene ungeschehen machen kann. Euer Vertrauen wurde verraten und eure Würde wurde verletzt. …Im Namen der Kirche drücke ich offen die Schande und die Reue aus, die wir alle fühlen."
Einfühlen in andere Personen statt sie zu missachten
Da ist das Kreuz der Priester und Ordensleute, welche die Achtung der Menschen verspielt und Schande über alle gebracht haben, die diesen Beruf ausüben. Selbst oft unreif und unfähig zu innigen Beziehungen haben sie sich und andere in diesen Strudel gezogen. Reife Intimität würde sich nämlich in der Fähigkeit zeigen, sich auf einer tieferen Ebene über Gedanken und Sehnsüchte, über Ängste und Hoffnungen auszutauschen und sich in die jeweils andere Person einfühlen zu können.
Fehlverhalten von Priestern ist nicht zu leugnen
Und da ist das Kreuz der Kirche mit sich selbst. Freilich ist es zu einfach, wenn ein vordergründiger Zusammenhang zwischen Missbrauch und Zölibat hergestellt wird. Genauso aber ist es zu einfach, dies nur zu leugnen. Über 90 Prozent der Fälle von sexuellem Missbrauch finden in Familie und Verwandtschaft statt. Solches Fehlverhalten unter Priestern beschränkt sich jedoch nicht auf einige wenige, sondern auf bis zu vier Prozent! Da hilft kein Leugnen.
Kirche kann sich nicht selbst vergeben
Das sind die Wunden, welche die Kirche selbst zur Kirche der Sünder macht. Deshalb ist es uns auch verboten, mit Fingern auf andere zu zeigen, erst recht, wenn es dazu dienen soll, uns selbst zu entlasten. Nicht wir können uns entlasten und die Kirche kann sich selbst nicht vergeben. Vor jeder Form der Umkehr steht zunächst die Einsicht in das eigene Versagen - das gilt auch für die Kirche als ganze. Solange wir den Schmerz dieser Wunden nicht an uns heran lassen, einen Weg der Buße nicht selbst gehen und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen, solange kann es keine Heilung geben.
Sexualmoral der Kirche nimmt Menschen nicht ernst
Dazu brauchen wir so etwas wie eine "Kultur der Achtsamkeit" im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, aber auch im Umgang mit uns selbst in unserer Kirche. Sie gilt es zu initiieren und zu pflegen. Zu dieser "Kultur der Achtsamkeit" gehört es, in unserer Kirche endlich einen Dialog über das zu führen, was zum ungeheuren Verlust an Vertrauen geführt hat. Das ist ja nicht nur die Scham über das Vergehen einzelner Priester und Ordensleute. Dazu gehört auch eine Sexualmoral, die den heutigen Menschen nicht ernst und eine Doppelmoral in Kauf nimmt. Und dazu gehört die Verweigerung eines offenen Nachdenkens über die Zulassungskriterien zum priesterlichen Dienst.
Annäherung an eine neue Kultur des Lebens
Wo diese Verweigerungshaltungen im Vertrauen auf Gottes Gegenwart überwunden würden, wäre erfahrbar, dass wir dem Leben trauen. Denn natürlich gehen solche Veränderungsprozesse nicht ohne Angst und Sorge um den rechten Weg ab. Mit einer "Kultur der Achtsamkeit", die zunächst bescheiden und demütig bei uns selbst beginnen muss, könnten wir dann aber Zeugen für eine Kultur des Lebens werden - einer Kultur des Lebens, die um die eigenen Wunden und das Angewiesensein auf Heilung weiß."