Bildung: Aufgabe der Caritas in der Netzwerkgesellschaft
Wichtige Impulse für ein an die Digitalisierungsmuster anschlussfähiges Verständnis von Bildung (und damit von dem, wo und wie die Arbeit der Caritas Bildungschancen heute mitgestalten kann und muss) verdanken sich der Debatte um Bildung in einer Gesellschaft des langen Lebens, um Bildung im Lebensverlauf. Die auf den Topos vom "lebenslangen Lernen" antwortende biographiebezogene Bildungstheorie schärfte das Verständnis dafür, Bildung nicht auf bestimmte institutionelle Settings zu reduzieren; Bildung ist als Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses "im Vollzug der eigenen Biographie" zu verstehen. Bildungsprozesse vollziehen sich in diesem Verständnis von Bildung auch außerhalb, dabei aber keinesfalls unabhängig von institutionellen Rahmungen.
Bildung und Digitalisierung
Für den Einsatz digitaler Tools im Unterricht braucht es die entsprechende Medienkompetenz.Lumina Images
Der dramatische Bedeutungszuwachs, den Bildung aktuell angesichts der Tatsache erlebt, dass wir mitten in der Umbruchphase digitaler Transformation stehen, wird allgemein proklamiert. Das Spektrum dessen, was mit der gestiegenen Anforderung an ‚Bildung für alle‘ in diesem Kontext gemeint ist, reicht dabei weit. Es geht um
- Befähigung zum kompetenten Umgang mit digitalen Tools,
- Gestaltungskompetenz (beruflicher) digital-analoger Prozesse und um
- Orientierungswissen in einer komplexen Netzwerkgesellschaft, in der eine historisch neue "Medienepoche" völlig neue Kommunikationserfordernisse mit sich bringt.
Nicht zuletzt Andreas Reckwitz hat mit seiner Analyse (in: Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017) deutlich gemacht, dass wir eine neue bildungs- und kulturbasierte Klassenspaltung erleben, die Nicht-Akademiker als "Bildungsverlierer" auf Tätigkeiten der ökonomisch-kulturellen service class abdrängt.
Generell gelte, so Reckwitz: "Die Polarisierung auf der Ebene von Bildung und kulturellem Kapital ist das zentrale Merkmal, welches die Sozialstruktur der spätmodernen Gesellschaft prägt." Der Gegensatz zwischen den Hochqualifizierten und den Geringqualifizierten sei "strukturbildend; es ist der ‚Faktor Bildung‘, der nun entscheidend beeinflusst, welchen Lebensstandard und -stil der Einzelne erreicht." Die Digitalisierung ist Treiber dieser Entwicklung.
Ging es in der Nachkriegsgesellschaft des 20. Jahrhunderts darum, möglichst identisches, "normales" Verhalten hervorzubringen, ein "Jedermann" zu sein, wird nun erwartet, dass man an seiner Originalität feilt, interessante Interessen und Aktivitäten postet und immer wieder neue überraschende und reizvolle Details und Erlebnisse aus dem eigenen Leben – vor allem in den sozialen Medien – präsentiert. "Es herrscht gewissermaßen ein Profilierungszwang, der zugleich ein Originalitäts-, Kreativitäts- und Erlebniszwang ist." Gewinner in diesem Wettbewerb sind diejenigen, die über genug Bildung, kulturelles (und ökonomisches) Kapital verfügen, um ein (geistreich witziges beziehungsreiches) Feuerwerk aufregender Erlebnisse präsentieren zu können.
Bildung als Aufgabe der Caritas
In fast jeder Hinsicht sind die Angebote der Caritas Angebote zur Bildungsermöglichung und können und müssen als solche auf die Bedarfe der komplexen Netzwerkgesellschaft hin weiter entwickelt werden:
- Bildung als Aufgabe der Caritas konkretisiert sich in den Alten- und Krankenpflegeschulen ebenso wie in Kindertageseinrichtungen. Beide müssen ihr Bildungsangebot so erweitern, dass digitale Kompetenz vermittelt wird.
- Die Caritas wird Anbieter von Maßnahmen im Sinne responsiver Digitalisierungspolitik sein müssen, um jenen Teilhabe an der digitalen Welt zu sichern, die von alleine im Umgang mit den neuen Möglichkeiten nicht zurecht kommen, insbesondere ältere Menschen..
- Die Caritas wird auf der Grundlage ihres umfassenden Erfahrungswissens in der Beratung und Begleitung von Menschen mit Migrationshintergrund – aus Sprachkursen für geflüchtete Frauen ebenso wie aus Angeboten der Arbeitsmarktintegration – neue biographiebegleitender Bildungsangebote entwickeln.
- Schuldnerberatung – analog und online – erweist sich ebenso wie assistierte Ausbildung als Möglichkeitsstruktur biographischen Lernens, für Bildung als reflektiertes Selbst- und Weltverständnis.
- Die Caritas ist gefordert als Impulsgeber und Partnerin, die hilft, an katholischen Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen Instrumente virtuellen Lernens einzuführen.
- Sie muss ihr Verständnis von Fürsorge im Lebensverlauf erweitern zu einem Verständnis von Bildungsermöglichung im Lebensverlauf und in den bildungspolitischen Debatten aktiv dazu beitragen, ein auf formelles Lernen verengtes Bildungsverständnis zugunsten einer ganzheitlichen Bildungspolitik zu erweitern.
- Als Arbeitgeberin muss die Caritas ernst machen mit einer Weiterbildungsoffensive, die die Veränderungen der digitalen Arbeitswelt vorausschauend berücksichtigt, so dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Kompetenzen und Orientierungswissen für eine nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit erwerben.
Zwei Mitarbeiterinnen von youngcaritas stellen beim Caritaskongress 2019 ihre Ideen zum Thema „Engagement verbindet! Wie bleiben wir in Kontakt?” vor.DCV/Janine Schmitz
Vor allem aber, so scheint mir, hat die Caritas die Chance, sich als Ermöglichungsort ehrenamtlichen zivilgesellschaftlichen Engagements zu bewähren und sich als Akteur informeller Bildung neu zu profilieren – die Erfahrungen mit der youngcaritas können und müssen dabei genutzt werden. In der durch Entgrenzung vertrauter Kategorien und Sozialräume geprägten Phase digitaler Transformation können gerade Angebote ehrenamtlichen Engagements helfen, Selbstwirksamkeit zu erfahren und auf diese Weise zu Bildungsanstrengungen motivieren. In einer Gruppe von Engagierten die Hoffnung auf die Gestaltbarkeit der Welt jenseits der Undurchschaubarkeiten digitaler Sphären nicht zu verlieren - das ist Bildungschance und Bildungsauftrag caritativen zivilgesellschaftlichen Engagements.
Anwaltschaftlichkeit und politische Bildung lassen sich auf diese Weise als "netzpolitische Bildung" weiter entwickeln: Der Caritasverband hat die große Chance, mit neuen/alten Partnern – aus Schulsozialarbeit und Verbraucherschutzverbänden … – seinen Bildungsauftrag als digitale Liebesbeziehung neu zu entdecken.