Einsprüche gegen pastorale „Killerphrasen“ und „Klagepsalmen“
Die Projektvorstellungen durch Ehrenamtliche im Rahmen einer Tagung von Pfarrern, Diakonen, Pastoral- und GemeindereferentInnen waren ein lebendiger Kontrapunkt gegen gängige "Killerphrasen" und pastorale "Klagepsalmen".
Im Jahr 2011 standen im Bistum Würzburg neun - für alle SeelsorgerInnen verpflichtende - Pastoraltagungen unter dem Thema "’Ubi caritas...’ - Glaube mit Hand und Fuß. Ermutigung zu einer Diakonischen Pastoral". Diese Tagungen wurden vom Institut für Theologisch-Pastorale Fortbildung in Kooperation mit dem Caritasverband für die Diözese Würzburg gestaltet. Referent war Prof. Dr. Udo Schmälzle OFM, Professor em. für Pastoraltheologie und Religionspädagogik in Münster.
Anknüpfend an die vom Deutschen Caritasverband und der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebene Untersuchung von 22 diakonischen Projekten in lokalen Lebensräumen ("Menschen die sich halten - Netze, die sie tragen" ) wurden auch Lebensraumprojekte aus verschiedenen Dekanaten der Diözese Würzburg (Integrationsinitiativen, Besuchsdienst- und Familienprojekte, "Eine Stunde Zeit"-Projekte und viele mehr) vorgestellt.
"Echte Not gibt es bei uns nicht"
Pfarreiverantwortliche staunen, wenn sie von Caritasfachleuten hören, wie viele Alleinerziehende, Arbeitslose oder überschuldete Familien in ihrem Raum leben. Psychisch kranke oder labile Menschen leben unter uns, ohne aufzufallen. Pfarreien brechen die verengte Perspektive der "Bürgerlichen Mitte" auf, wenn sie erkennen, dass ein Pfarrbüro, der Religionsunterricht oder die Jahrgangskatechesen "diakonische Orte" sind, an denen psychische oder materielle Not sichtbar wird. Das Personal in Kindertagesstätten und Sozialstationen weiß, unter welchen Belastungen Familien stehen, wenn Kinder allein zu erziehen oder demenzkranke Eltern zu betreuen sind.
Menschen aus allen Milieus bieten Pfarreien nicht zuletzt durch die Kasualien (Taufe, Beerdigung, Jubiläen…) niedrigschwelligen Zugang. Versteckte Not offenbart sich in Vor- und Nachgesprächen. Sensibilisierung und Stärkung der Wahrnehmungs-kompetenz können hier Fachdienste leisten.
"Das macht bei uns die Caritas"
In den Pfarreien arbeiten ehrenamtliche Caritas und professionelle Dienste und Einrichtungen als "Systeme" oft nebeneinander statt miteinander. Sozialraumprojekte knüpfen Knoten in einem "diakonischen Netzwerk" und schaffen Begegnung. Verzahnung geschieht, wenn Pfarreiverantwortliche Institutionen der Caritas und deren konkrete Angebote kennen (und umgekehrt). Gegenseitige Wertschätzung und Kooperation können geübt werden. Es steht den SeelsorgerInnen oder Mitgliedern eines Pfarrgemeinderates gut zu Gesicht, über die Angebote der Schuldnerberatung im Bilde zu sein und zu wissen, mit welchen Wartezeiten man bei einer Eheberatung rechnen muss. Es entlastet, wenn man auf den Allgemeinen Sozialdienst als Anlauf- und Sondierungsstelle verweisen kann. Wie gut, wenn eine Katechetin weiß, dass es kompetente Hilfen für scheidungsgeschädigte Kinder in der Erziehungsberatungsstelle gibt.
Das Angebot des Krisendienstes der Caritas oder der Suchtberatungsstelle muss in Pfarrbüros und in pfarreilichen Gruppen immer wieder "kundenfreundlich" bekannt gemacht werden, um Menschen passgenau verweisen zu können. Diakonische Pfarreiprojekte leben von Kontakten, konkreten Gesichtern und aktuellen Telefonnummern. MitarbeiterInnen der Gemeindecaritas informieren vor Ort, helfen professionell beim Aufbau diakonischer Pfarreiprojekte. Das diakonische Profil einer Pfarrei hängt auch von der Kommunikation zwischen den Verantwortlichen in Pfarreien und bei der Caritas ab.
"Da macht doch keiner mit"
In vielen Projekten war es kein Problem, Mitarbeitende jeglichen Alters zu finden, wenn attraktive Arbeitsbedingungen für ein Ehrenamt vorgehalten werden. Das sind: freie Zeitauswahl, Wertschätzung, Begleitung durch Hauptamtliche, das Angebot zu Fortbildung oder Supervision. Ein funktionierendes Team, das "auch gerne mal zusammen feiert", motiviert mehr als die Aussicht, als "Nachrücker" in einem frustrierenden Gremium einzusteigen. Besser als das stereotype Klagen über mangelndes Engagement ist die Frage nach den Interessen und Fähigkeiten der Einzelnen. "Was könnten Sie uns anbieten?" oder gar "Was würde Ihnen Spaß machen?" und "Wie viel Zeit können Sie uns guten Gewissens schenken?" gehören zu den eher selten gestellten Fragen im pfarreilichen Kontext. Zu guten "Arbeitsbedingungen" gehören auch eine Abschieds- und Dankeskultur ("Ich darf auch ohne schlechtes Gewissen eines Tages aufhören"). Ein diakonisches Ehrenamt ermöglicht Perspektiv- und Kompetenzerweiterung, der Einblick in Sozialstrukturen und differenzierte Lebenswelten wird als Gewinn betrachtet ("Das konnte, kannte, wusste ich vorher alles nicht").
Der Helfertyp "Wenn der Pfarrer mich braucht, bin ich da" stirbt aus. Beruflich erfolgreiche Frauen oder lebenserfahrene Männer, die Zeit spenden und Kompetenz zur Verfügung stellen, wollen in der Kirche nicht nur als "Helferkreis", als "Caritassammlerinnen", "Pfarrbriefausträger" angeprochen werden. Zu fragen ist in diesem Kontext, ob die begriffliche Einteilung in Haupt- und Ehrenamt (99% aller aktiven ChristInnen sind "Ehrenamtliche"!) falsche Rangordnungen stabilisiert. Neue Begrifflichkeiten (Freiwilligenarbeit, Pastoralteam, Leitungskreis, Sozialteam o.ä.) müssen gefunden werden.
"Das kostet doch alles wieder Geld"
Diakonische Projekte im Lebensraum kosten Geld (kleine Geschenke für Besuchte, Freizeitaktivitäten von Kindern, Ersatz von Auslagen etc.). Die Finanzen waren aber in fast keinem der vorgestellten Projekte ein Problem. Wenn geleistete Arbeit nachvollziehbar ist und anschaulich dokumentiert wird, kommen erforderliche Spenden für ein Zeltlager, für Hausaufgabennachhilfe oder Weihnachtsaktionen ohne Probleme zusammen. Menschen spenden gerne konkret und projektbezogen. Fundraising als kreative Methode des Werbens und der Öffentlichkeitsarbeit ist ein Gebot der Stunde. Menschen wollen kreativ gebeten und umworben werden und wollen wissen, was mit ihrem Geld geschieht. Im Umgang mit Spenden und Kirchensteuermitteln wird - trotz Offenlegung der Kirchenrechnung und Veröffentlichung des diözesanen Haushaltsplanes - mehr Transparenz und Mitsprache gewünscht.
"Was sollen Pfarrer denn noch alles machen?"
Vom Pfarrer oder von der Gemeindereferentin wird nicht erwartet, dass sie alle Altenheimbewohner und Hauskranken selbst besuchen. Gewünscht wird aber die Unterstützung derer, die diese Besuche im Auftrag der Pfarrei tun. Professionalität bedeutet hier institutionelle Kompetenz: Das Vermitteln von Kontakten und das Organisieren von Weiterbildungsangeboten. Es ist wichtig, dass die Pastoralreferentin um Zuschussmöglichkeiten und Fördermittel weiß, dass der Diakon Kontakt zu Einrichtungen der Caritas und Diakonie herstellen kann. Ehrenamtliche übernehmen gerne Arbeit und Verantwortung, erwarten jedoch von Hauptamtlichen "logistische" Unterstützung bei Finanzierung, Koordination und räumlichen Möglichkeiten. Hilfreich war in einem Projekt, dass der Pfarrer z.B. die Erstgespräche mit Interessierten führte und die Fortbildung und Supervision für das bestehende Team organisiert hat. Hilfe bei der Jahresplanung, die Einrichtung Runder Tische, das Pflegen von Kontaktlisten sind Dienste an den Diensten. Seelsorge an den SeelsorgerInnen ("Wir haben selbst auch Eheprobleme und Not mit den Kindern…") und Bestärkung derer, die sich stark machen für andere, sind wichtiger als das Bemühen um flächendeckende Einzelkontakte.
"Unbezahlte Lückenbüßer für fehlendes Personal"
Ehrenamt ist unentgeltlich, aber nicht umsonst. So wenig wie bürgerschaftliches Engagement die öffentlichen Haushalte sanieren kann, sind Ehrenamtliche in der Kirche Lückenbüßer für unbesetzte Hauptamtlichenstellen - weder in der Pastoral noch in Verbänden. Ehrenamtliche sind nicht als Handlanger für die eigenen Ziele instrumentalisierbar. Freiwilligenarbeit ergibt sich nicht "von allein" und automatisch. Ehrenamt kostet Arbeitszeit der Hauptberuflichen für Planung, Koordination und Begleitung, Ehrenamt kostet Energie für Koordination und Kontaktpflege. Personalentwicklung und Personalpflege Ehrenamtlicher bedeutet mehr als ein "Helferausflug" oder Dankesabend. Elemente könnten sein: Kurze Mitarbeiterjahresgespräche mit den Verantwortlichen (Reflexion, Planung des weiteren Engagements, persönlicher Dank, Unterstützungswünsche etc.), theologische Bewusstseinsstärkung (kirchliche Auftragsvergewisserung etc.) und das Angebot zu fachspezifischer Fortbildung (Gesprächsführung, Selbstorganisation…). Personalentwicklung im Bereich freiwilliger Dienste gehört zum festen Aufgabenbestand pastoralen Personals und muss in dessen Arbeitsumschreibungen sichtbar gemacht und benannt werden.
"Das interessiert doch niemanden"
Kirche wird da relevant, wo sie sich nicht auf innerkirchliche Dissonanzen, Profildebatten oder Umstrukturierungsmaßnahmen beschränkt, sondern sich zum Anwalt Notleidender macht. Die Öffentlichkeit interessiert sich für diakonische Projekte, wenn originelle Ideen erkennbar sind und sich Gesichter damit verbinden. Die lokalen Medien berichten über Sozialinitiativen, wenn sie den binnenkirchlichen Raum überschreiten. "Die Presse kommt immer wieder auf uns zu und fragt, ob wir wieder etwas vorhaben", erzählt eine Organisatorin eines katholischen Sozialprojektes in einer fränkischen Kleinstadt. Unterstützer werden dadurch gewonnen, dass in der Öffentlichkeit positiv werbend berichtet wird. Menschen interessieren und engagieren sich, wenn die binnenkirchliche Gremien- und Geselligkeitskultur verlassen wird. Aufmerksamkeit wecken Projekte, die konfessionsübergreifend arbeiten, sich für Not leidende Familien oder Obdachlose unabhängig von Kirchenzugehörigkeit einsetzen und bereit sind, mit evangelischen Gemeinden, kommunalen Trägern oder freien Initiativen zu kooperieren. Auch Nichtkirchgänger lesen aufmerksam Pfarrbriefe und den Lokalteil in der Zeitung. Man will wissen, wofür Kirche steht und ist neugierig auf diejenigen, die dafür einstehen.
"Deswegen kommen auch nicht mehr Leute in die Kirche"
Das Werben um MitarbeiterInnen in den vorgestellten Projekten war keine versteckte Rekrutierungsstrategie. Heimliche Missionierungs- und Rekatholisierungsversuche scheitern. Eingeladen waren in allen Projekten: Kirchenaktive und Pfarreitreue, aber auch Interessierte ohne konfessionelle Bindung, evangelische Christen und Ausgetretene. Und siehe: Sie kamen! Menschen denken nicht mehr nur kirchlich oder gar rein konfessionell. Wer um unbezahltes Engagement wirbt, muss kommunizieren, dass jede/r willkommen ist, ohne Vorleistung moralischer Art. Besonders im kirchlichen Kontext muss deutlich werden, dass diakonisches Engagement wertvoll und per se "heilshaltig" ist, auch wenn die persönliche Lebensgestaltung des Einzelnen den Normen der Kirche nur teilweise entspricht. Die Mitarbeit in einem sozialen Projekt ist oft einziger (und vielleicht letzter) Anknüpfungspunkt an die katholische Kirche. Viele Projektverantwortliche berichteten über gute Zusammenarbeit mit Menschen außerhalb der Kerngemeinde ("die man sonst noch nie bei uns gesehen hat"). Die Gemeinde muss offen sein für das veränderte Wertebewusstsein. Das bedeutet im diakonischen Bereich auch, mit anderen Konfessionen, mit Bürgerinitiativen und Initiativgruppen zusammenzuarbeiten, ohne das eigene Profil zu verleugnen.
"Und wo bleibt die Jugend?"
In Jugendarbeit und Katechese wollen junge Menschen gefordert und nicht katechetisch unterhalten werden. Sie wollen wissen, wo der Glaube "Hand und Fuß" bekommt. Pfarrei wird als ein gesellschaftlicher Gegenpol und "Andersort" wahrgenommen, wenn die diakonische Dimension erlebbar wird. In vielen der vorgestellten Sozialraumprojekte waren Kinder und Jugendliche eingebunden (in Projekttage, Altenheimbesuche, Lebensmittelsammelaktionen vor dem Supermarkt, Begegnung mit Behinderten). Katechesen sind der Ort, wo Glaube erlebbar wird und solidarisches Handeln geübt werden kann. Jugendliche haben Interesse an "Persönlichkeiten", die sich mit ihrer Zeit und Kraft freiwillig für andere Menschen einsetzen. Sozialraumorientierte Projekte bieten jungen Menschen die Chance, altruistisches Handeln zu lernen und Verantwortung einzuüben. Interesse an sozialem Engagement (Berufen?) wird geweckt. Diakonische Wahrnehmungs- und Handlungskompetenz können eingeübt werden. Kirche wird als sinnvolle Institution erlebt, auch wenn der Altersdurchschnitt der Gottesdienstbesucher nicht gesenkt wird. Diakonische Projekte im Rahmen der Jugendarbeit sind "Pflanzschulen" solidarischen Handelns.
Die neuen pastoralen Räume: Größer, kälter, anonymer?
Jedes Engagement, das aus dem unmittelbaren Lebensumfeld heraus entsteht, ist effizienter als alles, was von "außen" angeregt wird. In unmittelbarer Anschauung der Umstände vor Ort lassen sich ehrenamtlich Engagierte viel leichter motivieren ("Für unsere Kinder, für unsere Familien und Senioren wollen wir etwas ändern"). Dieses Engagement muss sich jedoch nicht auf Pfarreigrenzen beschränken, zumal sich Organisationsräume von Schulen, Sozialstationen und Krankenhäusern nicht mit territorialen Pfarreistrukturen decken. Übergreifende Kooperationen und diakonale Vernetzungsstrukturen machen Sozialraumprojekte attraktiv, weil sie den pfarreilichen Binnenraum überschreiten und breitere Einsatzmöglichkeiten bieten für unterschiedliche Talente und Kompetenzen. Diakonische Projekte gelingen, wenn die Zusammenarbeit mit Kommune und mit Einrichtungen der Caritas und Diakonie gelingt. Dieser "Profimix" kann in Projekten vor Ort genutzt werden. Pfarreiengemeinschaften und Pfarrverbünde können heilsame Räume und tragfähige Netzwerke werden.
Dieser Text ist eine Übernahme aus Lebendige Seelsorge 6/2011
Literatur:
Bucher, Rainer, Das Ehrenamt in der Transformationskrise der katholischen Kirche. Risiken und Perspektiven; in: Krieger, Walter / Sieberer, Balthasar (Hg.), Für Gottes Lohn?! Ehrenamt und Kirche, Linz 2011, 65-83.
Foitzik, Andreas, Potenzial. Eine ermutigende Studie zur "Diakonie im Lebensraum"; in Herder Korrespondenz 62 (2008) 276.
Hilberath Bernd Jochen, Ehrenamt oder genuine Sendung? Zum Ort der Laien in der Kirche, in: Anzeiger für die Seelsorge 9/2011, 5-8.
Schmälzle, Udo, Charismen teilen in überschaubaren Räumen. Woran orientieren sich diözesane Umstrukturierungsmaßnahmen?; in: Herder Korrespondenz 61 (2007) 175-179.
Schmälzle, Udo, Menschen, die sich halten - Netze, die sie tragen. Analysen zu Projekten der Caritas im lokalen Lebensraum, 2. Aufl. Berlin 2009.