Geflüchtete in der Pflege: Wie gemeinsames Arbeiten in heterogenen Gruppen gelingt
Geflüchtete im Umgang mit deutschen PflegebedürftigenAnja Schaal
Wer bin ich eigentlich und was passiert, wenn ich mit dem, was mich ausmacht und was ich als normal empfinde, auf jemand anderen treffe, der mir so ganz fremd ist? Wie gehe ich mit einem Verhalten um, welches ich nicht kenne und das bei mir Irritationen und vielleicht auch Angst auslöst? Wo kann ich mit anderen Kompromisse schließen und wie reagiere ich, wenn die Kompromisse im täglichen Miteinander nicht eingehalten werden?
Diese Fragen treten umso häufiger auf, je mehr sich die Menschen voneinander unterscheiden und je weniger sie es gewohnt sind, miteinander umzugehen. Die folgenden Beispiele verdeutlichen dies. Es handelt sich dabei um Aussagen von sowohl examinierten Pflegenden in ihrer Zusammenarbeit mit Schülern als auch meiner eigenen Erfahrung in den Niederlanden, die ich während meiner Schwangerschaft auf der Suche nach einem Gynäkologen gemacht habe.
Grafik: Andrea Kuckert-Wöstheinrich
Was zeigen diese Beispiele? Wer im Schichtdienst in einer Einrichtung im Gesundheitswesen arbeitet weiß, wie wichtig es ist, pünktlich zum Dienst zu kommen. In der Regel startet jeder Arbeitsbeginn mit einer Übergabe - unabhängig davon, ob Menschen in einem Krankenhaus, einem Alten- oder Pflegeheim oder in einer Einrichtung der Behindertenhilfe versorgt werden. Gemeinsam werden die Ereignisse des vorangegangenen Dienstes besprochen, Aufgaben verteilt, Organisatorisches geklärt und Patienten / Bewohner den Pflegenden zugeordnet. Ein Kollege, der zu spät kommt, verpasst wichtige Informationen und muss nachträglich auf den neusten Stand gebracht werden, aber dafür gibt es eigentlich keine Zeit. Der Motivation kommt in der Versorgung von Menschen eine besondere Bedeutung zu. Kollegen unterstützen sich gegenseitig, haben einen Blick für den anderen und für das gemeinsame Umfeld, sind bereit, sich über das eigentliche Maß hinaus für die Arbeit einzubringen. Jemand, der in seiner Arbeit nicht motiviert erscheint, wird als "unkollegial", als nicht "teamfähig" beschrieben. Er oder sie stört die Abläufe und Kollegen leiden unter dem Mehr an Arbeit. Sich seine Arbeit so einzuteilen, dass man trotz unvorhergesehener Ereignisse bis zu den Pausen oder dem Dienstende fertig ist, hat in der Pflege einen hohen Stellenwert. Sind die Bewohner / Patienten nicht ausreichend versorgt, müssen Kollegen den betreffenden Pflegenden unterstützen und deshalb mehr arbeiten, obwohl sie sich ihre eigene Arbeit gut eingeteilt haben. Das kann für Unmut innerhalb der Teams sorgen. Aus diesem Grund wird viel Wert auf das Einhalten bestimmter Abläufe gelegt. Fremd in einem anderen Land bedeutet auch das sich auseinandersetzen mit dem jeweiligen Gesundheitssystem. Während in Deutschland in der Regel viele Schwangere von einem Gynäkologen begleitet werden, ist dies in den Niederlanden nur bei einer medizinischen Indikation üblich. Das nicht Wissen darüber erschwert die Suche nach den jeweiligen notwendigen Instanzen.
Viele Theorien wurden in den letzten Jahren zum Umgang mit Vielfalt entwickelt. Nicht jede war per se praxistauglich und eignete sich zur Verbesserung der gemeinsamen Arbeit und damit auch der Versorgung der Bewohner / Patienten. Seit April 2017 läuft im St. Augustinus Memory-Zentrum ein Modellprojekt[1] zur Qualifizierung von Asylbewerbern und Flüchtlingen zum Alltagsbegleiter für Menschen mit Demenz (§45a SGB XI). Das Besondere daran ist neben der umfangreichen Schulung für die genannte Zielgruppe eine gleichzeitig stattfindende Weiterbildung für die Mitarbeitenden der Einrichtung.
Grundlage der Weiterbildung ist das Curriculum Caring in a Cultural Context[2] für alle, im St. Augustinus Memory-Zentrum arbeitenden Kollegen aus dem Bereich stationäre Altenpflege, Kurzzeitpflege, sozialer Dienst, Beratung und Tagesstätte. Der Fokus liegt auf der Entwicklung einer kollegialen Haltung des Respekts und der Wertschätzung - unabhängig von Geschlecht, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität. Die 16-stündige Basisfortbildungsreihe[3] enthält folgende Themen:
- die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität,
- die Entwicklung von Biographien in Abhängigkeit von Sozialisation und Kultur,
- eine Reflexion über den Kulturbegriff und den Einfluss der eigenen Subjektivität,
- das Einnehmen verschiedener Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit,
- die Entwicklung unterschiedlicher Kommunikationstheorien,
- eine Analyse der Biographien von den in unterschiedlichen Stadtteilen lebenden Menschen.
Ein Ziel der Fortbildung ist die Unterstützung der Teilnehmenden sich der eigenen Identität bewusst zu werden. Dabei spielt die jeweilige Biographie eine ausschlaggebende Rolle. Ein weiteres Ziel ist es, bei Unsicherheiten oder Irritationen nachzufragen und Beobachtungen zu beurteilen, kulturelle Unterschiede so zu interpretieren, dass die individuelle Subjektivität berücksichtigt wird. Verschiedene Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit werden benannt und mögliche Lösungsstrategien bei Missverständnissen und Fehlkommunikation kritisch reflektiert. Ziel ist, dass die Kontaktaufnahme mit Menschen aus anderen Kulturen empathisch und positiv erfolgt.
Nicht ohne Grund wurde in den am Anfang des Artikels vorgestellten Fallbeispielen nur die Aussage zitiert, nicht aber der Kontext beschrieben. Im ersten Beispiel galt das Feedback einem jungen Mann aus Eritrea, der sein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in unserem Haus absolvierte. Durch die Weiterbildung wurde der betreuende Kollege sensibilisiert, Fragen zu stellen. Daraufhin stellte sich heraus, dass der FSJler zu spät kam, weil er der Meinung war, dass er sich aufgrund seines freiwilligen Einsatzes nicht an Dienstzeiten halten müsste. Dies wurde in einem Gespräch geklärt und es kam zu keinen weiteren Irritationen.
Unmotiviert zeigte sich die surinamische Studentin nach ihrer Auffassung nicht. Entscheidend in diesem Fall war die unterschiedliche Definition von Motivation. Die Studentin kannte alle Krankheitsbilder der von ihr zu versorgenden Patienten und hatte alle Beipackzettel nach Hause mitgenommen, um sie zu lernen. Die Praxisanleiterin hatte unter Motivation ein aufgeschlossenes, offenes, freundliches, hilfsbereites Verhalten erwartet.
Für den Studenten aus Ghana stand die personenzentrierte Versorgung seines Patienten im Mittelpunkt. Da dieser Angst hatte, alleine zu einer Untersuchung zu gehen, verzichtete der Student auf seine Kaffeepause und begleitete seinen Patienten zu der Untersuchung - darüber hatte er jedoch seinen Kollegen nicht informiert.
Diese Beispiele verdeutlichen die Notwendigkeit des Fragenstellens, des sich aufeinander Einstellens, der Empathie und des Respektes. Nicht der andere kulturelle Hintergrund sorgt für Irritationen, sondern die Vermutungen, die daran geknüpft werden.
[1] Mit dem vorliegenden Projekt "Asylbewerber und Flüchtlinge als Potentialträger in Deutschland - ein Modellprojekt im Gesundheitswesen", finanziert vom Bundesministerium für Gesundheit, werden Asylbewerber und Geflüchtete für die Arbeit im Gesundheitsbereich erfolgreich rekrutiert, qualifiziert, ausgebildet und nachhaltig an ein Unternehmen gebunden. Das Projekt wird von der Hochschule für Gesundheit in Bochum wissenschaftlich begleitet und in Kooperation mit der Agentur für Arbeit und der St. Elisabeth Akademie durchgeführt.
[2] Das Curriculum orientiert sich an dem, an der Fachhochschule von Amsterdam erfolgreich implementierten Mentoren-Programm im ersten Studienjahr des B.Sc. Pflege. Zugrunde liegt das Buch von Kuckert-Wöstheinrich und Stomph (2015).
[3] Unterrichtet werden acht Wochen lang jeweils zwei Einheiten.